Der heilige Käfer

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Heiliger Pillendreher, seine Proviantpille gegen einen räuberischen Genossen verteidigend. Phot. P. H. Fabre.

Vor Jahrtausenden war es. Da rangen Menschenseelen im Niltal mit dem Welträtsel. Was bedeutete die Sonne, was die Nacht? Was das Leben, was der Tod? Die Sonnenkugel rollte durch den Himmel. Wer bewegte sie mit unsichtbaren Händen? Hier lag eine Leiche; noch mit der äußeren Gestalt des Lebens, aber starr und reglos. Gab es eine Stunde, die auch sie wieder beleben konnte? Auch die Sonne versank allnächtlich im Dunkeln und wurde doch an jedem Morgen wieder leuchtend emporgerollt. Hatte so auch der Tote noch einmal wieder seinen Sonnentag? Und die Menschen kamen auf seltsame Gedanken, sonderbare Bräuche. Sie konservierten den zerfallenden Leichnam mit unsagbarer Mühe als Mumie. Sie bargen die Mumie in unzerstörbaren Grabkammern, die den folgenden Jahrtausenden trotzen sollten. Wenn es ein Gewaltiger des Lebens gewesen war, so häuften sie eine Pyramide auf, die wie ein künstlicher Berg weithin über das Tal ragte. Vielleicht daß endlich doch diese Mumie wieder auferstand, in neues Leben hinein... Aber der Blick dieses Volkes, das in allen Stunden, da es nicht an den Tod dachte, ein rastloses Volk emsiger Ackerbauern war, haftete bei der schlichten Tagesarbeit auf kleinen Vorgängen der Natur, wie sie der Landmann bei seiner Ackerfurche, der Gärtner auf seiner Scholle immerzu erlebten. Und mit stillem Staunen glaubten sie auch dort einen feinen Wiederhall, ein Spiegelbild jener erhabensten Gedanken zu finden. Sie gewahrten Käfer, schwarze Wesen, die ein Fußtritt zermalmte. Auch diese Käfer machten in ihrer Welt das Mysterium von Leben und Tod durch. Sie verschwanden in der Scholle und kamen neu. Aber wenn der Pflug die Scholle brach, so erschienen gelegentlich auch bei ihnen wunderbare Anzeichen eines Zwischenstadiums. In künstlichem, engem Grabkämmerlein lag etwas wie die Mumie eines solchen Käfers, in Binden scheinbar eingewickelt wie eine echte Pyramidenmumie. Manchmal lag sie ganz totenstarr, wenn man auf die Puppe dieses Käfers geriet; manchmal regte sie sich schwach und unbehilflich, nur bestrebt, wieder in die dunkle Tiefe zu kommen, wenn man nämlich auf den Engerling, die Larve des Käfers, gestoßen war. Zu ihrer Stunde aber erstand solche Mumie wirklich wieder auf zu einem neuen, frisch lebendigen Käfer. Auf der Scholle lag ein Häuflein Viehmist. Dem Landmann war das ein nützliches, durchaus nicht despektierliches Requisit des Lebens, ein Stück Reichtum. Zu solchem Mist aber krochen große schwarze Käfer von künstlerisch keineswegs häßlichem Umriß. Sie zerschnitten den Dung und formten ihn zu verhältnismäßig riesigen Kugeln, die sie weithin rollten, um sie endlich zu vergraben. Wenn sich später eine solche Kugel in ihrem Kämmerlein fand, so erwies wohl auch sie sich als der kolossale Sarg einer Mumie; bisweilen war auch der eben neu aufgelebte Käfer schon darin. So erschien die Kugel, die Pille, als eine Art Monument, eine Pyramide, die das Tier in dunklem Drange über seiner Auferstehungssaat getürmt. Und der Priester, der nach Symbolen suchte, wählte sich das kleine Geschöpf der Scholle, das jeder schlichteste Bauer kannte, um an ihm seine tiefsinnigsten Glaubensmysterien zu verdeutlichen. In ihm zeigte die Gottheit im Bilde, was auch des Menschen Los war, was Sonne und Tod beherrschte. Und so kam das künstliche Abbild des Käfers in den ãgyptischen Tempel. Im Kleinen diente seine künstlerisch stilisierte Gestalt als Talisman im geweihten Schmuck; aber wo die Kunst dieses starken Volkes zwischen seinen himmelhohen Obelisken und Pyramiden ins Monumentale ging, da erschien auch der „heilige Käfer“, der Skarabäus, in steinerner Riesenform, die heute noch, nach Jahrtausenden, aus dem Sande ragt, unzerstörbar wie die Sphinxe, wie die Pyramiden selbst.

Von Ägypten und seinen Heiligtümern ist in aller Folge der Kultur immer etwas ausgegangen wie ein ehrwürdiger Schauer. Jahrtausende lang ist er auch an dem lebendigen Käfervolk dieser Pillendreher haften geblieben, auch noch, als es allmählich die nüchtern ordnende Hand des Naturforschers in die große Stammrolle des Systems einberief wie alle andern Käfer. Ein Kreis von Sagen umschloß nach wie vor den Skarabäus. Es war, als wenn sich keiner an ihn wagen wolle, in der Ahnung, sachkundige

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Heilige Pillendreher formen Pillen aus einem Haufen Dung. Phot. P. H. Fabre.

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Heiliger Pillendreher beim Fortbewegen seiner Proviantpille. Der Käfer rechts ist der eigentliche Verfertiger der Pille, der Käfer links ein zweifelhafter Helfer mit Raubgelüsten. Phot. P. H. Fabre.

Beobachtung durch nüchterne Naturforscheraugen werde auch hier jeden Nimbus rauben, wie es so oft an andern Stellen geschehen. In Wahrheit ist es damit aber nicht gar so schlimm geworden. Für den Forscher wird freilich der heilige Skarabäus in der Tat aus einem Sonnensymbol und Pyramidenbauer wieder zu einem typischen Mistkäfer, einem oder einigen (denn es gibt zoologisch verschiedene Skarabãusarten) aus der echten Reihe der Dungfresser und Dungverehrer, und wem das die Laune zur Tiefenschau stört, der muß sich eben bescheiden. Im übrigen aber ist auch dieses sein profanes Leben, wie es neuzeitliche Naturforscher endlich nach vielen Mühen denn doch so ungefähr klar gestellt haben, wie ein Tiermärchen der allerinteressantesten Art. Die echten Skarabäen, die in allem Wesentlichen ihres natürlichen Leibesbaues noch getreu den leicht stilisierten, ägyptischen Bildern entsprechen, gehen von den warmen Mittelmeerländern nördlich nur bis Ungarn, Italien, Südtirol und Südfrankreich hinauf, während bei uns in Deutschland nur noch verwandte, aber schon etwas anders gestaltete Pillendreher vorkommen. In Italien kann man ihnen aber vom schönen San Remo bis auf die alten Steinpflaster der Straßen von Pompeji und in den historischen Steinbrüchen von Syrakus auf Schritt

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Heiliger Pillendreher in seiner unterirdischen Kammer mit der Pille beschäftigt. Phot. P. H. Fabre.

und Tritt noch begegnen, wofern man überhaupt (was freilich die meisten Reisenden, die jedes Madonnenbild mit dem Bädecker prüfen, nicht zu tun pflegen) auch einmal dem Käferlein im Straßenstaube ein Auge gönnen will. Unbekümmert um alle schauerlichen Feuergarben, die der Vesuvgipfel oben warf, habe ich sie zwischen den alten Lavaströmen ihre Pillen, die dem Agypter die Welt bedeuteten, rollen sehen in eifriger Freude, daß selbst dahin Reiter gekommen waren und ihnen Material gebracht hatten. Von Farbe sind alle echten „heiligen Käfer“ schwarz, als trügen sie wirklich geistlichen Rock. Die Durchschnittsgröße des Leibes geht durchweg nicht viel uͤber ein Markstück hinaus. Erst in Afrika erreichen Verwandte die Größe einer kleinen Orange und rollen dann wahre Kanonenkugeln. In Südamerika aber nehmen die noch versippten Phanäusarten die fabelhaftesten Smaragd- und Saphirfarben mit Rotkupferreflexen an, die geradezu an verzauberte Ritter und Könige erinnern, wie denn die herrlichste Art unserer Sammlung einfach „der Kaiser“ heißt. Die Historie von der „heiligen Pille“ selbst jedoch ist laut Ausweis der profanierenden Naturforschung in Kürze folgende:

Die im Verhältnis, wie die Bilder zeigen, sehr ansehnlichen apfelgroßen Kugeln, die der Skarabäus aus allerlei Tierdung teils unter gewaltigem Schneiden, Wühlen und Wählen mit den höchst geeigneten Vorderbeinen, teils durch Bauchpressen, Wirbeln und Reiten mit Hilfe des ganzen Leibes formt, sind zunächst keineswegs alle „Mumiensärge“. In unzähligen Fällen dienen sie als einfache Proviantreserven, die der Käfer vom allgemeinen, reichen Mahl einzeln für sich absondert, handlich zustutzt, mit Hilfe seiner „Hinterhände“, d. h. seines langen, letzten Beinpaares, fern in irgend einen geeigneten Winkel rollt und dort recht sinnreich in ein tiefes Speisekämmerlein im Erdboden vergräbt, um sich in ungestörter Muße solange daran gütlich zu tun, wie die leckere Pille reichen will. Erst auf einer ganz bestimmten Höhe der Ereignisse erhält auch diese Alltagspille dann noch eine höhere Bedeutung. Sie tritt nämlich in den Dienst der Liebe. Ein Pärlein verliebter Käfer rollt in der Pillengestalt besonders fein gewiegten Dung beiseite und bereitet auch ihm eine geschützte Stätte im tief verborgenen Kämmerlein. Aber statt ihn wie sonst zu verzehren, arbeitet das Weibchen ihn dort noch einmal erst zu einer neuen, besonders raffiniert schichtweise angeordneten Kugel um. Im oberen Pol dieser wahren Kunstkugel wird eine kleine Mulde vertieft, um die der köstlichste, reichste Nährextrakt gehäuft liegt. Und in diese Mulde kommt jetzt ein befruchtetes Ei. Mit einer kleinen Kuppel

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Heiliger Pillendreher bei der Mahlzeit. Phot. P. H. Fabre.

wird es selber noch einmal überwölbt, so daß es also ganz von der Pille umschlossen wird, die dabei mehr die Gestalt einer Birne als eines Apfels angenommen hat. So bleibt das Särglein jetzt sich selber überlassen. Aber es ist kein wirklicher Mumiensarg in einer Pyramide. Bald kriecht aus dem Ei im behaglichen Mistbeet die junge Käferlarve, der Engerling. So sehr sie, gegen den ausgebildeten Käfer gehalten, auch wirklich wie eine gewickelte Mumie aussehen mag: in Wahrheit ist sie fidel und gefräßig in ihrem Nest wie alle solche Engerlinge. Proviant aber gibt's genug. Nicht lange, und sie ist ein feister Geselle, der sich bloß noch einmal zu kurzer, mumienhaft starrer Ruhe als Puppe schlafen legt, dann aber als fertiger Neuskarabäus aus der leer gefressenen Pillenhöhle fröhlich aufersteht. Eine wahre Wiege, nicht ein Grab, eine Milchflasche und nicht eine monumentale Pyramide war diese „Liebespille“! Und doch diente auch sie dem größten Mysterium, innigster philosophischer Anteilnahme wert. Denn was ist tiefer, was geheimnisvoller, was bedeutsamer als — die Liebe, selbst im schlichtesten Käfer.....