Der Diplodocus

Man nimmt im allgemeinen mit Recht an, daß die Tierwelt vergangenet Erdepochen die heut lebende beträchtlich an Größe übertraf. Für keine Klasse aber gilt dies so unumschränkt wie für die Reptilien: die Krokodile, Schildkröten, Schlangen und Eidechsen, die im mesozoischen Zeitalter, dem „Zeitalter der Reptilien“, geradezu ungeheuerliche Verhältnisse erreichten. Vermutlich hängen die phantastischen Körperdimensionen dieser vorzeitlichen Kriechtiere, die in den „Dinosauriern” oder Schreckechsen damals ihre höchste Ausbildung erfuhren, mit dem mehr als tropischen Klima jener frühen Erdentage zusammen; als mit Ablauf der sogenannten Kreidezeit das Klima sich änderte, starben sie größtenteils aus.

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Eine Riesen-Echse der Vorzeit: Der Diplodocus.

Zu den eigenartigsten und gewaltigsten solcher Riesendrachen gehört nun der Diplodocus (Diplodocus Carnegii), ein pflanzenfressender Dinosaurier (Sauropode), dessen Knochen man mehrfach im Staate Wyoming (Nordamerila) ergraben hat. Die Schulterhöhe des Tieres kam der des größten lebenden Elefanten gleich. die Hinterbeine vollends erreichten die stattliche Höhe von 4 Metern. Den über 3 1/2 Meter langen, außerordentlich massigen Leib trugen kräftige, gedrungene, aufrechte Gliedmaßen mit breiten, fünfzehigen Füßen. Von diesen fünf Zehen waren die beiden äußeren rundlich abgestumpft, die mittleren drei aber mit stark gekrümmten Krallen bewehrt. Der lange, schwanen- oder straußenhalsähnliche, doch robustere und weniger elastische Hals endete in einen vergleichsweise kleinen, nämlich nur etwa einen halben Meter langen Kopf, in dem die Augen ziemlich hoch saßen und die Nasenlöcher wie bei den meisten Vögeln fast in einer Ebene dazu standen. Die Kiefer trugen vorn sehr schmale, offenbar im Schwinden begriffene Zähne, in der Stellung den Zähnen eines Rechens vergleichbar. Während Hals und Kopf etwa doppelt so lang wie der Leib waren, maß der Schwanz, der, sich beträchtlich verjüngend, in eine dünne Spitze auslief und fast so beweglich-biegsam wie eine Peitschenschnur gewesen sein dürfte, wohl gegen 15 Meter. Man kann sich nur schwer vorstellen, welchem Zwecke dieser Schwanz gedient haben möchte, es sei denn, daß der Diplodocus ihn, wie es der heut lebende Waran (Warneidechse, Monitor niloticus) tut, zur Verteidigung gegen die gleichzeitig lebenden Raubsaurier (Theropoden) gebraucht habe. Unser Reptil dürfte eine Art amphibischer Lebensweise geführt und sich namentlich von Pflanzen genährt haben, die es vom Grunde der Gewässer weidete. Zumal die Krallen scheinen dafür sehr geeignet, und die Anordnung der Zähne legt den Gedanken nahe, daß sie wie ein Rechen, eine Harke gewirkt haben. Möglicherweise suchte der Diplodocus auch in den Seen Schutz vor seinen Feinden, und weil kein Reptil unter Wasser atmen kann, dürfte die außerordentliche Länge des Halses wohl den Zweck gehabt haben, dem Tiere, das den Leib tief untergetaucht hielt, das Erheben des Kopfes über den Wasserpiegel zu ermöglichen. Es mögen hier noch ein paar Maße des Diplodocus nach Branca mitgeteilt sein. Die längste Rippe dieses Sauropoden maß 1,86 Meter, das Schulterblatt 1,34 Meter, der Oberarm 0,96 Meter und der längste Halswirbel, der länger als der Kopf ist, 0,62 Meter — gewaltige Verhältnisse, wenn wir sie mit denen der heut lebenden Tiere vergleichen, und doch werden auch sie noch von den neuerlich am Tendaguru in Deutsch-Ostafrika entdeckten Skeletten des sogenannten Gigantosaurus, von dem an andrer Stelle die Rede sein soll, erheblich übertroffen.