Kristalle und polarisiertes Licht

Nicht nur im Tier- und Pflanzenreiche gibt es in sich abgeschlossene Individuen, sondern auch in der anorganischen Welt, im Mineralreiche. Es sind die Kristalle. Man könnte einen Kristall selbst einen Mikrokosmos, eine Welt für sich im kleinen nennen; denn, an die zahllosen Weltkörper erinnernd, gruppieren sich in ihm Millionen und Abermillionen jener unendlich kleinen Bestandteile der Materie, die wir Atome bzw. Ionen nennen, um ein gemeinsames Zentrum, und zwar nach jenen ewig bestehenden Gesetzen der Anziehung und Abstoßung, die eben in der „Elemente Hassen und Lieben” begründet sind. Es gibt wohl kaum Körper, die eine solche Regel- und Gesetzmäßigleit in ihrem Aufbau zeigen, wie die Kristalle. Betrachtet man das Skelett eines noch in Bildung begriffenen Kristalles, dann gewahrt man, wie sich jedes noch so kleine Leistchen oder Teilchen, das sich aus seiner Bildungsflüssigkeit (Mutterlauge) ausscheidet und zu dem wachsenden Kristalle fügt, unter ganz bestimmten, haarscharf abgemessenen Winkeln an diesen legt. Nur selten erscheinen diese Winkel etwas verzerrt, und selbst wenn die Mutterlauge stark verunreinigt erscheint und sich massenhaft Fremdkörper in das Kristallgefüge einschieben, ordnen sich die anschießenden Kristallpartikelchen genau so, wie es die chemische Natur des Kristallbildners erheischt. So kommt in der Kristallform einer chemischen Verbindung der Aufbau der sie zusammensetzenden Atomgruppen (Moleküle) in der allerfeinsten und schärfsten Form zum Ausdruck, doch ist es bis jetzt noch nicht gelungen, die Gestalt dieser winzigen Bausteine der kristallbildenden Körper mit einiger Sicherheit festzustellen. Allen gleichartigen Molekülen, die zur Kristallbildung neigen, wohnt das Bestreben inne, sich unter bestimmten Winkeln aneinander zu fügen. Handelt es sich nun um Lösungen kristallisierbarer Substanzen, worin die betreffenden Moleküle ja gewissermaßen herumschwimmen, dann müssen die Lösungen, etwa durch Abdampfen, auf eine bestimmte Menge verringert werden, bis jene kleinsten Bausteine der Kristalle sich sämtlich so nahe kommen, daß ihre gegenseitige Anziehung den Widerstand der Flüssigkeit überwindet.

Ist diese Konzentrationsgrenze der Lösung erreicht, dann ist das aufgelöste Salz an seinem Kristallisationspunkte angekommen und es beginnen winzige Kristalleistchen oder Körnchen an der Umwandung des die Lösung enthaltenden Gefäßes oder auch an irgend einen in die Lösung gebrachten Körper anzuschießen. Daß es sich hierbei um molekulare Arbeit handelt, kann man daraus ersehen, daß konzentrierte Flüssigkeiten keine Kriställchen ausscheiden, wenn sie nicht in leisester Weise bewegt werden. Das Wachstum der Kristalle erfolgt in drei oder vier Hauptrichtungen, und man kann sich in jedem Kristallkörper ein System von drei oder vier sich kreuzenden Linien denken, die sich in ihren eigenen Mittelpunkten und zugleich in dem des Kristalles gegenseitig schneiden, so daß alle Teile des letzteren regelmäßig und symmetrisch um dieses Linienkreuz herum verteilt liegen. Diese einzelnen Linien sind die „Achsen“ des Kristalles, und an sie scheinen sich, obgleich sie nur als ideale Anziehungslinien zu betrachten sind, die unzähligen winzigen Bausteine des Kristalles wie an magnetisch wirkende Stäbe anzuschießen.

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Kristalle verschiedener Systeme.

Alle natürlichen oder künstlich gebildeten Kristalle gehören nun 6 Gruppen oder Systemen an. Das erste ist das reguläre, bei welchem wir es nur mit gleichlangen, sich sämtlich unter einem rechten Winkel schneidenden Achsen zu tun haben. Letzteres ist auch bei dem zweiten und dritten Kristallsystem der Fall, aber bei diesen liegen entweder zwei gleich lange und eine dritte längere oder kürzere Achse vor (quadratisches System) oder drei verschieden lange (rhombisches System). Das vierte, das hexagonale System, ist charakerisiert durch vier Achsen, von denen drei in einer Ebene liegen und sich gegenseitig unter einem Winkel von 60 Grad schneiden, während die vierte, längere oder kürzere Achse auf ihnen senkrecht steht. Bei dem fünften und sechsten Kristallsysteme sind drei verschieden lange Achsen vorhanden, von denen sich entweder zwei unter einem schiefen Winkel schneiden, während die dritte die beiden andern rechtwinklig kreuzt (monoklines System), oder alle drei schiefwinklig zueinander liegen (triklines System). Eines unsrer Bilder stellt verschiedene Kristallsysteme dar.

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Farben dünner Kristallplättchen im polarisierten Licht. Nach einer Farbenskizze von Wilh. Kranz. Oben ein Gipsplättchen, unten ein Kalkspatplättchen, das ein dunkles oder ein helles Kreuz zeigt, je nachdem es gedreht wird und sich also die kleinsten Teilchen des Kristalls dem Durchgange der Lichtwellen entgegenstellen.

Mit welch strenger Gesetzmäßigkeit sich die unendlich kleinen Bausteine, die Moleküle, in den Gesamtaufbau des Kristalles fügen, zeigt das Verhalten desselben gegen durchdringende Lichtstrahlen. Nach allgemeiner wissenschaftlicher Annahme besteht das Licht in Schwingungen des Äthers, jener über alle Begriffe feinen Substanz, die die Räume zwischen den Molekülen erfüllt. In den gewöhnlichen Lichtstrahlen schwingen nun die Ätherteilchen in raschestem Wechsel senkrecht zur Fortpflanzungsrichtung des Lichtstrahls, aber in allen möglichen Ebenen um diese. Durch Spiegelung des Lichtes in ganz bestimmter Weise kann man nun Lichtstrahlen erzeugen, bei denen der Äther nur in einer einzigen Ebene hin und her schwingt. Solches Licht nennt man polarisiertes Licht. Strahlen von gewöhnlichem Licht, welche Kristalle des regulären Systems oder Schnittstücke von solchen durchdringen. werden dabei in ihrem physikalischen Charakter nicht verändert, und zwar wohl deshalb nicht, weil der Aufbau ihrer kleinen Bausteine nach allen Seiten hin die gleiche Beschaffenheit zeigt. Anders aber verhält es sich mit Kristallen der übrigen Systeme. Bei diesen bringt es die gesetzmäßige Gruppierung der Moleküle mit sich, daß die Lichtstrahlen durch die mit Äther erfüllten Zwischenräume der Kristallteilchen nicht nach allen Seiten mit gleicher Leichtigkeit und Schnelligkeit hindurchdringen können, daß sie vielmehr in verschiedener Weise aus ihrer Richtung gebracht oder, wie man zu sagen pflegt, gebrochen werden. Bei der eigentümlichen Gruppierung der Moleküle in nicht regulären Kristallen teilt sich nun sozusagen jeder in diese einfallende Lichtstrahl in zwei verschiedene Strahlen, die beide aus polarisiertem Lichte bestehen (“Doppelbrechung”).

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Kalisalpeter in polarisiertem Licht. Bei bestimmter Lage des Kristalls erscheint ein dunkles Kreuz.

Strahlen oder vielmehr Strahlenbündel von gewöhnlichem weißen Sonnenlichte, das ja aus allen Regenbogenfarben zusammengesetzt ist, werden auf ihrem Wege durch die mathematisch genau geordneten Molekülreihen der Kristalle auseinandergerissen und wieder in ihre einzelnen Farbenstrahlen zerlegt; denn jede farbige Strahlengattung sucht sich, der ihr eigenen Fortpflanzungsgeschwindigleit und Schwingungsweite entsprechend, ihren besonderen Weg durch den Molekülbau des Kristalles. In überraschend schöner Weise tritt diese Farbenteilung des weißen Sonnenlichtes auf ziemlich dünnen scheibenförmigen Ausschnitten von nicht regulären Kristallen hervor, wenn man diese unter dem Mikroskop im polarisierten Lichte beschaut. Liegen Ausschnitte von Kristallen des tetragonalen oder hexagonalen Systems, die man als optisch einachsige Krislalle bezeichnet, vor, und sind diese Schnitte senkrecht zur Hauptachse des Kristalles ausgeführt, so sieht man auf ihnen einen schönen farbigen Kreis mit einem dunklen Kreuz in der Mitte hervortreten. Nimmt man statt der einachsigen Kristalle zweiachsige (rhombische, monokline oder trikline) und schneidet aus diesen scheibenförmige Stücke in verschiedenen Richtungen aus, dann sieht man auf ihnen meistens zwei farbige Ringgruppen, zwischen welchen sich (je nach der Schwingungsrichtung des polarisierten Lichtes) ein dunkler Strich oder ein schwärzliches Kreuz einschiebt oder auch ein Paar dunkler büschelförmiger Kurven, wie das unsere beiden Figuren deutlich machen.

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Kalisalpeter in polarisiertem Licht. Bei einer anderen Lage des Kristalls erscheinen zwei dunkle Büschel.